Ich möchte gern tanzen. Ich spüre, wie die Traurigkeit hinter meinen Augen lauert. Sie sitzt unter meinen Lidern, doch es fließen keine Tränen. Ich spüre sie in der Kehle, doch ich schluchze nicht. Immer wieder schaue ich aus dem Fenster, immer wieder auf die Baumkronen, die ich aus dieser Position noch sehen kann. Ich liege im Bett, die Beine hoch. Mal wieder verletzt. Oder krank. Immer eines von Beidem. Und wenn, dann immer hier. Immer hier, immer in diesem Bett, immer mit dem Blick aus dem Fenster. Dabei würde ich gern tanzen. Aber ich kann ja nicht, wegen der Verletzung. Wenn ich tanzen würde, würde sich die Traurigkeit bewegen, würde aus der Kehle platzen und zu einem tiefen Schluchzen werden, würde aus den Augen rinnen und zu warmen Tränen werden. Mein Körper würde sich anschließend wohlig erschöpft fühlen. Ich würde einschlafen und wenn ich aufwache, ist alles besser. In meiner Vorstellung davon, wie es optimal abläuft.
Stattdessen: Erstarrung
Doch ich liege hier, meine Verletzung am Knie fordert mich dazu auf, langsam zu machen. Bewegungen auf ein Minimum zu fahren, aus dem Fenster zu sehen. Ich fühle mich unbeweglich und erstarrt. Und ich spüre, wie ich mich selbst davon abhalte, nicht zu weinen. „Lass dich doch weinen“, sagt meine Frau zu mir – doch ich will nicht. Wehre mich gegen das Gefühl, wehre mich gegen die Tränen. Wieso? Weil ich keinen Bock mehr habe. Keinen Bock, hier zu liegen und wieder nur blöd aus dem Fenster zu starren. Wieder nichts bewegen, wieder nicht tanzen zu können. Und ich bin wütend. Am meisten auf mich selbst, diese eine Sekunde nicht aufgepasst und mich selbst in diese Gefahr gebracht zu haben. Mir selbst diese Freiheit genommen zu haben. Ich kann niemanden verantwortlich machen – die Verantwortung habe allein ich. Kein Raum für Tanz, kein Raum für Tränen, kein Raum für Mitgefühl.
Ich spüre, wie die Erstarrung wieder einmal dazu führt, dass ich auch mental unflexibel werde. Wie ich augenblicklich nicht mehr sanft mit mir sein kann, wie ich mir meinen Trost für mich selbst verbiete. Mein Gelenk ist verletzt, steif und unflexibel. Und so ist mein Geist auch. Ich denke nicht mehr flexibel, ich BIN nicht mehr flexibel. Nicht nur mein Gelenkband ist durch die Verletzung steif geworden. Ich spüre die Spuren der Verletzung auch in meinem Herzen und in meinem Kopf.
„Geht nicht“, sagt die innere Stimme und zuckt die Schultern. Was soll ich schon tun? Ich stelle mir mich selbst vor, vor meinem inneren Auge, wie ich mich bewege. Es ist, als würde eine Kamera alles aufzeichnen. Und sofort überlege ich, was ich dann damit machen kann. Würde sich das für die Ausbildung eignen? Oder für einen Kurs? Könnte ich das schneiden und auf Insta posten? Mensch, Kathrin!! Was is nur los mit dir? Immer musst du alles nach draußen zeigen. Nein, Bullshit. Ich zeig ja gar nichts nach draußen. Nur noch… genau. Das ist es.
Nur noch, was sich „anbietet“. Was sinnvoll ist.
Und dann erkennst du plötzlich, wo der Knoten ist.
Ich bin vor allem nicht mehr flexibel darin, mich einfach tun und lassen zu lassen, was ich will, was mir gut tut. Früher, da habe ich nicht getanzt. Auch damals ging es nicht. Ich lag im Bett, während der Schwangerschaftskrankheit, während der Erschöpfung nach den Geburten, während der Einsamkeit. Und hab rausgeschaut. Und dann habe ich zum Handy gegriffen und geschrieben. Ich habe mein Herz nach draußen geschrieben, überall da, wo kein Tanzen ging. Und dann hab ich es gelassen. Bin steif und unflexibel geworden, habe mich um die Arbeit und das Unternehmen Kathrin Borghoff gekümmert, aber nicht mehr um Kathrin Borghoff. Hab mir erzählt, dass das Schreiben nicht mehr nötig ist, denn ich hab ja so viel zu tun. Und das hatte einfach Priorität.
Und so ließ ich das Bloggen und auch das regelmäßige Schreiben nach und nach gehen. Ersetzte es durch tanzen, durch Embodiment und vor allem: Durch Arbeit. Die war wichtig und ich hab alles daran geliebt. Ich will nichts davon hergeben. Doch es ist jetzt eben auch Zeit, flexibel zu sein. Und wenn ich mal nicht kann, trotzdem gut für mich zu sorgen.
Wenn man ein Unternehmen hat, das so sehr online ist, wie meins, dann jagt man Texte durch Maschinen um zu überprüfen, wie Suchmaschinenoptimiert sie sind. Dann ergänzt man sogenannte „Keywords“ und verhagelt sich damit den eigenen Text. Dann kürzt man hier und ergänzt dort. Man gibt dem Text eine „leserfreundliche“ Form und passt ihn an. Ich hab das alles brav gemacht, weil Business und so. Und mich jedes Mal für unglaublich flexibel gehalten. Heute stelle ich fest, dass ich mich nicht gestreckt und gedehnt habe, wie ich dachte. Sondern beschnitten und zurückgehalten.
Das Schreiben war schon immer eine Quelle der Inspiration und ein Sprachrohr meiner Gefühle. Ich habe mein Herz nach draußen geschrieben, in der tiefsten Depression. Ich habe geschrieben, um andere zu erreichen und mich auszutauschen. Meine Blogposts waren Hilferufe, aus meiner kleinen 4-Zimmer-Einöde in die Welt da draußen, eine Suche nach anderen, denen es auch so ging wie mir. Und ich fand sie. Ich fand euch.
Ich hab eine Community um die emotionalen Texte und die dunklen Stunden gebaut, in denen sie entstanden. Heute wird mir klar: Das passt in keine Suchmaschine.
Nicht mehr die Alte. Oder?
Ich bin nicht mehr die Bloggerin von 2015. Muss ich auch nicht sein. Ich bin Kathrin Borghoff, mittlerweile Coach und darum fällt es mir schwer, immer alles ungefiltert rauszuhauen. Nicht, weil ich ein Problem mit Verletzlichkeit habe – habe ich nicht. Sondern, weil ich Traumasensibilität verstanden habe. Ich muss lernen, neu zu schreiben. Schreiben lernen. Nicht, um mich anzupassen, nein. Das muss ich eher verlernen. Sondern, um wieder so frei aus dem Herzen zu schreiben, wie es MEIN EIGENES Herz erleichtert. Das kostet mich das Okay der Suchmaschine. Aber das wiederum ist voll okay für mich.
So findet ihr ab sofort auf diesem Blog vielleicht weniger Lexikonbeiträge und weniger Erklärbär.
Aber ganz sicher mehr Leben.
Ich freue mich darauf.